Was sollen Banken tun? Zur Bedeutung von Rationalität und Legitimität im Bankensystem
Projektinhalt
Das Forschungsprojekt ist ein Verbundprojekt, das durch das Soziologische Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) koordiniert wird.
Kooperationspartner mit eigenen Teilaufgaben sind:
- Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik der Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen, Prof. Dr. Bernhard Emunds
- Sparkassenakademie Hessen-Thüringen, Dr. Ulrich Klueh
Banken sind bei der Entwicklung von Strategien und Geschäftsmodellen vielfältigen gesellschaftlichen Erwartungen ausgesetzt, die keineswegs immer zueinander passen. Zum einen muss unterschieden werden zwischen Anforderungen, die an das Bankensystem als Ganzes, und solchen, die an einzelne Unternehmen gerichtet werden. Zum andern haben es die einzelnen Bankunternehmen mit Erwartungen unterschiedlicher Gruppen von Stakeholdern zu tun, die untereinander mehr oder weniger kompatibel und in sich selbst durchaus widersprüchlich sein können, z. B. wenn dieselben Akteure persönliche wirtschaftliche Interessen und allgemeine ethische Normen ins Spiel bringen. Jede reale Geschäftspolitik von Banken beruht unter dieser Perspektive auf Selektivität und Priorisierung im Umgang mit gesellschaftlichen Erwartungen, flankiert von dem Bestreben, auf diese selbst Einfluss zu nehmen.
Zielsetzungen des Projekts
Das Projekt verfolgt eine doppelte Zielsetzung:
- Zum einen soll die Entwicklung von Rationalitäts- und Legitimitätsvorstellungen re-konstruiert werden, mit denen Banken und Bankensystem sich in Deutschland von Seiten der allgemeinen politischen oder Laienöffentlichkeit, der Fachöffentlichkeit der Finanzregulatoren und im Rahmen der Business Community konfrontiert sehen (kurz: Öffentlichkeitsanalysen).
- Zum andern soll analysiert werden, wie die betreffenden Erwartungen auf der Ebene von Bank- und Kreditunternehmen praktisch wirksam werden, unter der Annahme , dass Banken als strategisch handelnde kollektive Akteure die an sie herangetragenen, mehrdeutigen und widersprüchlichen Erwartungen eigenständig deuten und strategisch darauf Bezug nehmen (kurz: Organisationsanalysen). Die Organisationsanalysen berücksichtigen unterschiedliche Eigentums- bzw. Governancestrukturen von Banken (Privat- versus öffentliche Banken), die bei dieser Übersetzungs-und Selektionsleistung eine Rolle spielen (können).
Die ersten beiden Rekonstruktionsanalysen von Öffentlichkeiten werden von den beiden Kooperationspartnern durchgeführt: das Nell-Breuning-Institut ist für die allgemeine politische oder Laienöffentlichkeit, die Sparkassenakademie für die Fachöffentlichkeit der Finanzsystem- bzw. Bankenregulation zuständig. Das SOFI analysiert die Entwicklung der (1) Erwartungsstrukturen in der Business Community und verantwortet die (2) Organisationsanalysen.
Ad 1) Zur als spezifische Öffentlichkeit begriffenen Business Community werden hier neben den Banken und Kreditinstituten selbst, deren Verbände sowie einschlägig tätige Consultingunternehmen, Analysten und die einschlägige Wirtschaftspresse gezählt. Im Rahmen dieser Öffentlichkeit zirkulieren branchenbezogene Leitbilder, berufliche Rol-lenvorbilder, Geschäfts- und Organisationsmodelle, Erfolgsmaßstäbe sowie spezifische Managementpraktiken. Diese werden verglichen, gegeneinander abgewogen oder kont-rovers gegeneinander gestellt und können sich zu bestimmten Zeiten zu hegemonialen Leitvorstellungen verdichten.
Auf der Grundlage von Dokumenten und Medienanalysen und ergänzenden Expertengesprächen werden folgende Forschungsfragen bearbeitet:
- Welche Geschäftsprinzipien werden artikuliert und propagiert? Mit welchem Gewicht gehen einzelwirtschaftliche Zielsetzungen und unterstellte gesellschaftliche Erwartungen und Funktionszuschreibungen in die Formulierung dieser Prinzipien ein?
- Welche Zielgrößen und Erfolgsmaßstäbe werden als maßgeblich für Banken und Kreditinstitute identifiziert und propagiert? Welche werden als überholt bzw. unzeitgemäß kritisiert?
- Welche Märkte und welche Produkte und Produktlinien werden als zentral für das Bankgeschäft identifiziert?
- Welche beruflichen Rollenvorbilder bzw. Tugenden von „Bankern“ werden betont bzw. propagiert?
- Wie gehen Debatten der allgemeinen politischen und Laienöffentlichkeit in die Öffentlichkeit der Business Community ein? Welche in jenen Debatten erhobenen Erwartungen werden (wie) aufgenommen, abgewehrt oder ausgeblendet?
- Welche Ansprüche an die Regulierung von Banken bzw. Bankgeschäften bzw. wel-che Kritiken an bestehenden Regulierungen werden artikuliert? Welche Rationa-litäts- bzw. Legitimitätsnormen stehen jeweils dahinter?
Auch im Hinblick auf diesen Fragenkomplex wird ein besonderer Akzent auf Übereinst-immungen und Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Segmenten im deutschen Banken- und Sparkassensystem gelegt. In welchen Punkten besteht Übereinstimmung bzw. findet eine Angleichung statt? In welchen Punkten werden unterschiedliche bzw. explizit gegensätzliche Positionen bezogen?
Ad 2) Die für Wirtschaft und Gesellschaft grundlegende Transformations- und Interme-diationsfunktion des Bankensystems wird im Mit- und Gegeneinander selbständiger, mehr oder weniger unmittelbar konkurrierender Bankunternehmen realisiert. Gesellschaftliche Erwartungen werden durch geschäftspolitische Entscheidungen im Rahmen jeweils gegebener organisatorischer Strukturen partiell aufgegriffen und mehr oder weniger gut realisiert. Entsprechendes gilt für das Verhältnis zwischen den Leitorientie-rungen aus der Business Community und tatsächlicher Geschäftspolitik einzelner Banken. Die Realisierung der gesellschaftlichen Infrastrukturfunktion beruht daher auch nicht auf der Verallgemeinerung eines einheitlichen Geschäftsmodells, sondern auf Ver-schiedenheit und (systemischer) Komplementarität.
Die geplanten exemplarischen Organisationsanalysen fragen danach, wie die Leitvorstellungen in der Business Community in Bezug auf die Geschäftspolitik und strategischer Ausrichtung von privaten Banken und Sparkassen, organisatorische Strukturen und berufliche Profile aufgegriffen, spezifiziert, modifiziert oder ggf. auch ignoriert oder zurückgewiesen werden.
Besondere Beachtung kommt im Hinblick auf die Leitfragestellungen des Projekts der Frage nach Arbeitsorientierungen und dem Arbeitshandeln von Bankbeschäftigten zu. Denn was aus einer Unternehmensstrategie oder einem Geschäftsmodell tatsächlich wird, entscheidet sich letztlich daran, wie sie in dieses Arbeitshandeln eingehen. Von Seiten der Organisation sind dabei Verfahren und Instrumente der Implementation im Sinne von Verhaltenssteuerung auf der Grundlage von Regeln im Spiel, insbesondere Kontroll-, Anreiz- und Sanktionssysteme und –verfahren, die technisch oder über Interaktion vermittelt sein können. Von Seiten der Beschäftigten werden ihrerseits eigene in beruflicher Sozialisation gewonnene Leitbilder, Rationalitäts- und Legitimitätsvorstellungen eingebracht, sowie erfahrungsbasierte Annahmen darüber, was in bestimmten Situationen in der betreffenden Organisation de facto als richtiges Verhalten gilt. In dem Maße, in dem es bei der Produkterstellung auf eigenständiges Arbeitshandeln ankommt, hängt das Gelingen vom Zusammenspiel dieser beiden Ebenen ab. Wie diese unterschiedlichen Handlungsorientierungen und –zwänge aufeinander treffen und ausgehandelt werden, soll für zentrale banktypische Handlungsfelder (Privatkundenbetreuung, Kreditvergabe an Geschäftskunden) im Bankengruppenvergleich analysiert werden.