Projektinhalt

2020 geriet die industrielle Fleischproduktion angesichts von COVID-19-Masseninfektionen in die Schlagzeilen. Der öffentliche Diskurs rückte ins Licht, wie Lebensmittel produziert werden, aber es wurde auch exponiert, wer dort arbeitet: Überwiegend migrantische Beschäftigte, deren Arbeitsbedingungen häufig grundlegende Normen des Arbeitsrechts und der Menschenwürde verletzten. In der Folge kam es zum Eingreifen der Bundesregierung, das Anfang 2021 u.a. zu einem Verbot von Werkverträgen sowie einem Teilverbot von Leiharbeit in Kernbereichen der Industrie führte. Unser Forschungsprojekt fragt am Beispiel wichtiger Standorte der Fleischindustrie nach der Reichweite dieser Regulierungen.

Ausgangspunkt ist der Befund, dass die Nutzung migrantischer Arbeitskraft auf einer „multiplen Prekarität“ basiert: Um die problematischen Arbeitsverhältnisse erklären zu können, müssen neben Beschäftigungsverhältnissen und betrieblicher Arbeitsteilung auch aufenthalts- und sozialrechtliche Prekarität oder durch Wohnverhältnisse bewirkte Lebensunsicherheiten berücksichtigt werden. Deshalb sind interdisziplinäre und sozialräumlich erweiterte Perspektiven auf dieses empirische Feld notwendig.

Das Projekt untersucht erstens durch Pandemie und Reformen ausgelöste veränderte Unternehmens- und Managementstrategien, einschließlich der immer wichtiger werdenden Frage nach einer Rekrutierung geeigneter Arbeitskraft. Zweitens geht es veränderten Mustern der Zusammensetzung der Migration nach, die durch eine Stärkung der Rechtsposition der Arbeitenden durch Direktbeschäftigung bei gleichzeitig häufig unveränderten Rekrutierungsformen und Produktionsprozessen vermittelt sind. Drittens analysieren wir den für die konkrete Umsetzung der durch die Regulierung angestoßenen Veränderungsprozesse wichtigen lokalen sozialräumlichen Kontext. Damit folgen wir dem Befund, dass für eine Verstetigung von Beschäftigungsverhältnissen und eine Stabilisierung der betrieblichen Einbindung auch die soziale Reproduktion der Arbeitenden vor Ort gesichert werden muss, was in der Konsequenz auch eine Umorientierung der öffentlichen Infrastruktur in Bezug auf Wohnraum, Mobilität oder Kinderbetreuung bedeutete. Untersuchungsfälle sind deutsche Standorte der drei größten Fleischproduzenten in Europa: VION, DANISH CROWN und TÖNNIES.

Um die Auswirkungen der aktuellen Veränderungsimpulse zu ergründen, werden in Bezug auf die drei genannten Ebenen Standorte dieser Unternehmen im Oldenburger Münsterland und Ostwestfalen in den Blick genommen. Das Projekt verbindet dabei Perspektiven der Arbeits- und Migrationsforschung mit einer sozialräumlichen Erweiterung des Arbeitsbegriffs, wie er im Rahmen der „Labor Geography“ vorgeschlagen wird. Es knüpft an Ergebnisse und Desiderate an, die sich aus dem zwischen 2017 und 2021 vom Land Niedersachsen geförderten Projekt Refugees@Work ergeben haben. Dies schließt auch die systematische sekundäranalytische Nachnutzung der in diesem Projekt erhobenen qualitativen Datensätze ein, die analytisch mit den für das hier vorgestellte Projekt erhobenen Daten verknüpft werden sollen.

Auswahl von Veröffentlichungen zur Fleischindustrie (aus früheren Projekten):

  • Birke, Peter (2022): Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland. Wien: Mandelbaum Verlag.
  • Birke, Peter; Bluhm, Felix (2021): Eine Riesensauerei: Prekäre Beschäftigung in der Fleischindustrie. In: Mayer-Ahuja, Nicole; Nachtwey, Oliver (Hrsg.): Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft. Berlin: Suhrkamp, S. 281-304.
  • Neuhauser, Johanna; Birke, Peter (2021): Migrantische Arbeit unter Covid-19: Leerstellen in der Arbeitssoziologie. In: Arbeits- und Industriesoziologische Studien 14, H. 2, S. 59–69.