Unsichere Sicherungen


Der vierte Berichtsteil, der vier Kapitel umfasst, wird durch das Soziologische Forschungsinstitut (SOFI) in Göttingen koordiniert. Es sollen einerseits der Haushaltskontext, andererseits das soziale Sicherungssystem als Ressourcen und Umwandlungsfaktoren für individuelle Teilhabe beobachtet werden. Schritte zur integrierten Analyse der Einkommens- und Vermögensverteilung sollen eine bessere Darstellung der Umverteilungs- und Teilhabeeffekte des sozialen Sicherungssystems ermöglichen. Die Neuregulierung des Systems der sozialen Mindestsicherung als Schnittstelle von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bildet ein Vertiefungsthema. Die Berichterstattung zu Haushalts- und Familienstrukturen liefert Basisinformationen für die anderen mikroanalytischen Arbeitspakete des Verbunds und entscheidende Kontextinformationen für die Bewertung der Teilhabeeffekte atypischer Erwerbsformen mit prekärem Potenzial: Welchen Einfluss haben Veränderungen in der Arbeitswelt und in Familie und sozialen Nahbeziehungen auf individuelle Erwerbsverläufe?

Kapitel 13

Einkommen und Vermögen: Trend zu mehr Ungleichheit hält an

Rahmenbedingungen haben materielle Ungleichheiten verstärkt

Irene Becker

Die Autorin kommt durch ihre Analysen zu der Kernbotschaft, dass die Rahmenbedinungen materielle Ungleichheit verstärkt haben.

Im Kapitel 13 wurde die Entwicklung materieller Teilhabe untersucht. Dabei wurden Einkommens- und Vermögensverteilung zunächst isoliert betrachtet und dann in einem zweidimensionalen Schichtungsmodell zusammengeführt. Aus beiden Ansätzen ergeben sich folgende Kernbotschaften: 1) Der anhaltende Trend zu mehr Ungleichheit der (Netto-)Einkommensverteilung und zur Zunahme relativer Armut ist nur teilweise auf die (a) seit Mitte der 1970er Jahre verstärkte Spreizung der Markteinkommensverteilung zurückzuführen. Daneben wirken (b) rückläufige Schutzeffekte des Sozialversicherungssystems, des sozialstaatlichen Ausgleichs über Steuern und (steuerfinanzierte) Transfers sowie (c) der Nahbeziehungen innerhalb von Haushalten in die gleiche Richtung. 2) Relative Einkommensarmut kann nur selten durch Vermögen (zeitweilig) kompensiert werden, zumal Vermögen hier gegebenenfalls in einem selbstgenutzten Eigenheim gebunden ist. Auf der anderen Seite geht Einkommensreichtum fast immer mit einem beträchtlichen Vermögenspolster einher, wobei hier neben Selbstständigenhaushalten auch Angestellten- und insbesondere Beamtenhaushalte überproportional vertreten sind. 3) Da die derzeit günstigen makroökonomischen Rahmenbedingungen nicht per se zu einer Richtungsumkehr der Verteilungsentwicklung führen und Veränderungen der Struktur privater Haushalte nicht bzw. kaum beeinflussbar sind, kann insbesondere mit einer Neuausrichtung von arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Reformen die Zunahme der Ungleichheit von Teilhabemöglichkeiten gestoppt werden.

Arbeitspaket 10: Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung

In Arbeitspaket 10 „Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung“ (Irene Becker, Empirische Verteilungsforschung) wird ein mit soeb 2 eingeführter eigenständiger Ansatz zur Beschreibung der Wohlstandsverteilung entwickelt und fortgeführt. Die Verteilungsanalysen im Rahmen der sozioökonomischen Berichterstattung stellen anhand der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) und des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) die Entwicklung von Einkommensungleichheit auf allen Stufen der Primär- und Sekundärverteilung dar, d.h. für Markteinkommen (z.B. Bruttostundenlöhne und Monatsvergütung), erweiterte Markteinkommen (einschließlich Renten und Pensionen),  Markt- und Nettoäquivalenzeinkommen. So lassen sich Umverteilungseffekte des sozialen Sicherungssystems und der privaten Haushalte ausweisen. Ein modifiziertes Einkommens- und Vermögenskonzept macht verschiedene Erwerbstätigengruppen hinsichtlich ihrer Vorsorgeaufwendungen vergleichbar. Wesentliche gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, welche die individuellen Verteilungspositionen beeinflussen, werden als gesellschaftliche Umwandlungsfaktoren der Wohlfahrtsproduktion systematisch in die Analyse einbezogen.

Der verteilungsanalytische Ansatz soll in zweierlei Hinsicht entsprechend den Empfehlungen des Stiglitz-Sen-Fitoussi-Reports (2009) erweitert werden:

  • um Schritte zur geforderten integrierten Analyse der Einkommens- und Vermögensverteilung,
  • und um Daten zur Ungleichheit der Konsummöglichkeiten und des faktischen Konsums (schichtspezifische Ausgabenstrukturen, Ausstattungen mit langlebigen Konsumgütern, Sparen); diese Ergebnisse werden im Kontext der Abteilung 5 (AP 16) des Berichts dargestellt.

Dabei ist auch abzuschätzen, wie weit das derzeit verwendete Statistikmodell zur Bemessung des soziokulturellen Existenzminimums bei zunehmender Spreizung der Einkommensverteilung und der Konsummuster gesellschaftliche Mindeststandards der Teilhabe für die armutsgefährdete Bevölkerung zu sichern vermag.

Zwei Zusatzmodule behandeln methodische Probleme der Verteilungsanalyse, die das Niveau der in der Sozialberichterstattung nachgewiesenen Ungleichheitsindikatoren und Armutsquoten beeinflussen:

  • Abschätzungen der Über- oder Untererfassung einzelner Gruppen oder Einkommensarten in den Haushaltsbefragungen EVS und SOEP,
  • alternative Ansätze zur Behandlung fehlender Einkommensangaben für einzelne Haushaltsmitglieder (sog. partial unit nonresponse und item nonresponse).
  • Poster 13: Einkommen und Vermögen: Trend zu mehr Ungleichheit hält an. [PDF]
  • Becker, Irene: EVS und SOEP: methodische Aspekte bei Verteilungsanalysen. soeb-Working-Paper 2014-3. [PDF]
  • Becker, Irene (2015): Mindestbedarfe von Kindern in verschiedenen Rechtsgebieten - das soziokulturelle Existenzminimum gemäß SGB II als Leitfaden auf der Fachtagung zum Thema „Wieviel brauchen Kinder? Gleiches Existenzminimum für alle!" des Zukunftsforums Familie e. V. am 07.09.2015 in Berlin. [PDF]
  • Becker, Irene (2014): „Das Grundsicherungsniveau im Spiegel der Verteilung und normativer Setzungen“. Vortrag am 08.04.2014 auf der Fachtagung zum Thema „Wie viel braucht der Mensch zum Leben?“/ Hans-Böckler-Stiftung, DGB. [PDF]

Kapitel 14

Unsichere Beschäftigung und Prekarität

Resultierend aus dem untenstehenden Arbeitspaket 11 „Haushalts- und Familienstrukturen als Kontext für Beschäftigungsverläufe“ entstand das Kapitel 14: "Unsichere Beschäftigung un Prekarität", geschrieben von Jan Goebel und Anita Kottwitz.

In diesem Kapitel steht die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen individuellen Beschäftigungsverhältnissen mit prekärem Potenzial und materieller Teilhabe auf der Haushaltsebene im Mittelpunkt. Die Autor*innen geben insbesondere Antworten darauf, ob ein Privathaushalt – als eine Instanz der Wohlfahrtsproduktion – Schutz vor „Armut“ oder „gefährdeter Teilhabe“ bieten kann, wenn sich ein Haushaltsmitglied in prekärer oder unsicherer Beschäftigung befindet.

Zentrales Ergebnis des Kapitels ist, dass sich vor allem zwei Typen von prekären Beschäftigungsverläufen identifizieren lassen. Zum einen gibt es Paarhaushalte, in denen nicht prekäre und prekäre Verläufe ohne weitere Auswirkung auf die Wohlfahrtslage des Haushalts zu beobachten sind. Zum anderen gibt es Haushalte mit prekären Beschäftigungsverläufen der Haushaltsmitglieder, die deren prekäre Lebenslage dauerhaft verfestigen. Auffällig ist, dass sich keine Verlaufstypen mit einer nennenswert abnehmenden oder zunehmenden Teilhabe herauskristallisieren. Insbesondere Personen mit Beschäftigungsverläufen, die durch Arbeitslosigkeits- und Nichterwerbstätigkeitsphasen sowie Beschäftigungsverhältnissen mit prekärem Potenzial geprägt sind, bleiben damit einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt.

Arbeitspaket 11: Haushalts- und Familienstrukturen als Kontext für Beschäftigungsverläufe

Arbeitspaket 11 „Haushalts- und Familienstrukturen als Kontext für Beschäftigungsverläufe“ (Abteilung Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin) schreibt zum einen grundlegende Kennzahlen zur Ausdifferenzierung von Haushalts- und Familienstrukturen sowie Erwerbskonstellationen („Verdienermodellen“) auf der Datengrundlage des Mikrozensus und des SOEP fort. Dabei werden wie in soeb 2 auch soziale Nahbeziehungen zu Bezugspersonen außerhalb des Haushalts berücksichtigt.

Für Arbeitspakete im Verbund, die andere Mikrodaten mit Haushaltsinformationen nutzen, stellt Arbeitspaket 11 Syntaxbausteine oder beschreibende Metadaten bereit, damit Haushaltsvariablen möglichst harmonisiert generiert werden. Ein eigener, vertiefender Untersuchungsschwerpunkt zielt auf Sicherungsleistungen von Haushalten für Erwerbspersonen in atypischer Beschäftigung oder mit unsicheren Erwerbsmustern. Dazu sollen im SOEP individuelle Beschäftigungsverläufe für Zeiträume von sechs bis zehn Jahren sequenzanalytisch typisiert und dann im Haushaltszusammenhang auf mögliche Ressourcen zur Stabilisierung der Lebensführung untersucht werden. Regionalinformationen auf Kreisebene (etwa lokale Arbeitsmarktbedingungen, räumliche Verteilung von Arbeitsplätzen, soziale Kontakte im Wohnquartier) sollen den im SOEP befragten Haushalten als erklärende Variable zugespielt werden.

 

  • Poster 14: Unsichere Beschäftigung und Prekarität – im Lebensverlauf und im Haushalt. [PDF]
  • Web-Tabellen Kapitel 14 [PDF]
  • Goebel, Jan/ Kottwitz, Anita: Messung prekärer Wohlfahrtslagen. Vortrag im Rahmen der Jahrestagung der DGS-Sektion Soziale Indikatoren „Lebensqualitätsforschung zwischen Wissenschaft und Politikberatung“ am DIW vom 1.-2. Oktober 2015. [PDF]

Kapitel 15

Teilhabe und Grundsicherung - SGB II als Leistungssystem und Lebenslage

Dana Müller, Anja Wurdack, René Lehweß-Litzmann, Nathalie Grimm und Holger Seibert

Die Analyse zeitlicher Muster und die Auswertung qualitativer Längsschnittdaten zeigen die Vielfalt individueller biografischer Muster von SGB-II-Leistungsbeziehenden und verdeutlichen die Heterogenität dieser Gruppe. Für einen Teil der Personen im Leistungssystem sind trotz verbesserter Arbeitsmarktlage im Zeitverlauf Verfestigungstendenzen festzustellen. Andere weisen vermehrte Statuswechsel und eine hohe Dynamik in ihren Erwerbsverläufen auf und nur 28 % der Zugangskohorte von 2007 kann den Leistungsbezug dauerhaft über eine ungeförderte und bedarfsdeckende Beschäftigung verlassen.

Bei Paaranalysen wurde festgestellt, dass die Konstellation des (männlichen) Familienernährers eine besondere Rolle im SGB-II-Leistungsbezug einnimmt. Fällt das Einkommen des Mannes weg, so reicht das Einkommen der Frau nicht zur Existenzsicherung des Haushaltes aus. Ein Austritt aus dem Leistungsbezug wird u. a. durch die Wiederbeschäftigung des Mannes möglich.

Betriebswechsel sind sehr selten mit einem Austritt aus dem SGB-II-Leistungsbezug verbunden und nur ein kleiner Teil der Betriebswechsel mündet in ein stabiles langfristiges Beschäftigungsverhältnis.

SGB-II-Leistungsbeziehende leiden unter einer Teilhabelücke, die sich, laut standardisierter Umfragedaten in den letzten Jahren etwas verkleinert zu haben scheint. Analysen qualitativer Längsschnittdaten zeigen allerdings, dass trotz dieses Trends der Großteil der Leistungsbeziehenden verschlechterte Lebensbedingungen, nach wie vor einen großen „Leidensdruck“ thematisieren und ihr Leben im Grundsicherungsbezug als soziale Degradierung erleben.

Arbeitspaket 12: Teilhabe und Grundsicherung – SGB II als Leistungssystem und Lebenslage

Das Arbeitspaket 12 „Teilhabe und Grundsicherung – SGB II als Leistungssystem und Lebenslage“ wird in einer Kooperation dreier Institute bearbeiteten: das Soziologische Forschungsinstitut (SOFI), das Forschungsdatenzentrum (FDZ-IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA) im Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und das Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS). Sein Gegenstand ist die wichtige institutionelle Veränderung im deutschen Sozialstaatsmodell, die mit den „Hartz-Reformen“ der 2000er Jahre angestoßen wurde, und insbesondere die Neugestaltung der Schnittstelle zwischen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Das neue Leistungssystem der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II, auch bekannt als „Hartz IV“), zielt zwar auf Teilhabe durch möglichst rasche „Eingliederung in Arbeit“, umfasst aber neben Arbeitslosen und ihren Angehörigen in erheblichem Umfang Erwerbstätige und Nichterwerbspersonen. Drei Leitfragen leiten die Untersuchung und die Berichterstattung zu den Teilhabeeffekten des SGB II an:

  • Welche Rolle spielt das SGB II im deutschen Beschäftigungssystem? D.h., welche Arbeitsmarktrisiken sichert es ab, und wie wird das Beschäftigungssystem wiederum durch die sozialstaatliche Problembearbeitung beeinflusst? Mit welchen Nichterwerbsstatus steht das SGB II vornehmlich in Beziehung?
  • Welche zeitlichen Muster des Leistungsbezugs kennzeichnen das Grundsicherungssystem? Wie sehen die Erwerbsverläufe im Wirkungsbereich des SGB II aus und was ist ihr prekäres Potenzial? Welche Bedeutung haben die Bedarfsgemeinschaften und damit die Erwerbsbiografien der Angehörigen von Leistungsbeziehern für die Fallverläufe?
  • Wie lebt es sich im und mit dem SGB II? Wie beeinflusst die Grundsicherung für Arbeitsuchende Spielräume eigenverantwortlicher Erwerbsbeteiligung und Lebensführung?

Aus der Stellung des SGB II an der Schnittstelle zwischen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ergibt sich die Notwendigkeit eines integrierten Berichtsansatzes, der alle vom SGB II berührten Teilhabedimensionen umfasst. In Kooperation mit Arbeitspaket 10 sind Konzepte zur Beobachtung von Konsum- und Versorgungsniveaus so anzupassen, dass sie die systembedingte Besonderheiten der Lebenslage im SGB-II-Bezug berücksichtigen (etwa Sanktionen und nicht anerkannte Bedarfe, kommunale Eingliederungsleistungen und Sachleistungen aus dem „Bildungs- und Teilhabepaket“ von 2011).

Für die Bearbeitung sind zum einen Sekundäranalysen bestehender Produkte der Statistik und Arbeitsmarktberichterstattung der BA sowie vorliegender Einzelstudien, zum anderen Auswertungen quantitativer und qualitativer Mikrodaten vorgesehen. Ausgangspunkt für die Mikroanalysen sind Personen im Erwerbsalter, die seit 2005 mindestens eine Episode des Leistungsbezugs nach dem SGB II aufweisen. Neben dem PASS und dem in Arbeitspaket 5 analysierten SIAB wird das „Administrative Panel“ (AdminP) des IAB vom FDZ-IAB für die Berichterstattung ausgewertet. Zusätzlich sind Sekundäranalysen einer qualitativen Paneluntersuchung „Prekarisierte Erwerbsverläufe“ beabsichtigt, die im Rahmen eines Auftragsprojekts  des IAB am Hamburger Institut für Sozialforschung durchgeführt wurde.

  • Poster 15: Teilhabe auf Grundsicherungsniveau – Verläufe, materielle und erlebte Lage. [PDF]
  • Web-Tabellen Kapitel 15 [PDF]
  • Seibert, Holger/Wurdack, Anja/Bruckmeier, Kerstin/Graf, Tobias/Lietzmann, Torsten (2017): Typische Verlaufsmuster beim Grundsicherungsbezug: Für einige Dauerzustand, für andere nur eine Episode. (IAB-Kurzbericht, 04/2017) [PDF]
  • Lehweß-Litzmann, René (2016): Teilhabelücke im Grundsicherungsbezug besteht, vermindert sich aber seit 2008. soeb-Working-Paper 2016-4. [PDF]
  • Müller, Dana/ Wurdack, Anja (2014): „Erwerbsverläufe und das SGB II“. Vortrag im Rahmen der SOFI-Tagungsreihe „Work-In-Progress: Teilhabebarrieren – Vielfalt und Ungleichheit im segmentierten Bildungs- und Beschäftigungssystem“ am 23./24.05.2014 in Göttingen. [PDF]
  • Lehweß-Litzmann, René (2015): „Verwirklichungschancen im Kontext des Arbeitsmarkts – Worum handelt es sich? Was kann Sozialinvestition bewirken?“. Vortrag im Rahmen des Fachgesprächs „Soziale Investitionen kritisch betrachtet: Eine Analyse der Arbeitsmarktpolitik auf europäischer Ebene“ am ifz, Salzburg, 27. November 2015. [PDF]

Kapitel 16

Wie das Rentensystem Erwerbsbiografien würdigt

Teilhabe durch Erwerbsarbeit und sozialstaatliche Leistungen sind eng miteinander verwoben

Janina Söhn und Tatjana Mika

Die Autorinnen kamen in ihren Analysen zu der Kernbotschaft, dass Lücken in den Erwerbsbiografien, insbesondere durch Arbeitslosigkeit und schwerwiegende chronische Erkrankungen, sich negativ auf die Höhe gesetzlicher Renten und somit auf die materielle Teilhabe der verrenteten Bevölkerung auswirken. Nur ein knappes Viertel aller Personen, die erstmalig eine Altersrente beziehen, weisen etwa 45 Jahre sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung aus. Bezieherinnen und Bezieher von Erwerbsminderungsrenten, die ein Fünftel der jährlichen Renteneintritte ausmachen, sind im Schnitt nur bis Anfang 50 erwerbstätig. Fast die Hälfte im Ergebnis ist selbst unter Berücksichtigung weiterer Einkommensquellen und der Haushaltsgröße armutsgefährdet und noch mehr geben an, sich die Zusatzzahlungen für Arzneimittel nicht leisten zu können. Gerade die Langzeitarbeitslosigkeit, die viele Erwerbsgeminderte vor ihrer Verrentung durchleben, unterstreicht die Notwendigkeit von mehr Gesundheitsprävention nicht nur in Betrieben, sondern auch in Phasen der Nicht-Erwerbstätigkeit. Zwar nehmen Erwerbsbiografien, die wegen langjähriger Hausfrauentätigkeit zu geringen Rentenansprüchen führen und die vor allem westdeutsche Frauen aufweisen, in den jüngeren Geburts- und Eintrittskohorten ab. Dennoch beziehen immer noch viele Rentnerinnen so niedrigen Renten, dass ohne die Unterstützung eines Partners ein Leben in Altersarmut droht.

Die Analysen zeigen, dass es sich lohnt, die gesamte Erwerbsbiografie in den Blick zu nehmen. Zwar ist die Phase der letzten zehn Jahre vor der Rente eine besonders kritische Episode, in der die Erwerbsteilhabe zunehmend gefährdet ist. Der längere biografische Rückblick weist aber auf einen viel früheren Beginn von Prozessen hin, die letztlich in einer nur geringen selbstständigen Absicherung im Alter und bei Erwerbsminderung enden.

Arbeitspaket 13: Erwerbsverlauf und Altersübergang

Gegenstand von Arbeitspaket 13 „Erwerbsverlauf und Altersübergang“ (Soziologisches Forschungsinstitut [SOFI]) und Forschungsdatenzentrum der Rentenversicherung [FDZ-RV]) sind die Effekte einer veränderten institutionellen Rahmung der letzten Erwerbsphase und des Renteneintritts. Prägte die arbeitsmarktpolitisch motivierte Frühverrentung zur Ausgliederung Älterer aus dem Arbeitsmarkt jahrzehntelang das deutsche Produktions- und Sozialmodell, gilt die Steigerung der Erwerbsbeteiligung im höheren Erwerbsalter seit etwa einem Jahrzehnt als neue arbeitsmarkt- und sozialpolitische Antwort auf die demografische Alterung. Die Analysen in Kapitel 18 von soeb 2 haben gezeigt, dass sich sichere und prekäre Übergangsmuster älterer Erwerbspersonen sozial ausdifferenzieren und sich ihre Beschäftigungschancen insbesondere abhängig vom Qualifikationsniveau ungleich entwickeln. Da die Veränderung der institutionellen Regelungen den mehr oder weniger freiwilligen vorzeitigen Erwerbsausstieg durch dauerhaft hohe Rentenabschläge sozial hoch riskant werden lässt, ist die individuelle Gestaltung der Altersübergangsphase nunmehr von kritischer Bedeutung für Teilhabechancen und soziale Ungleichheit der Bevölkerung im höheren Erwerbsalter. Zu den institutionellen Regelungen, deren Teilhabeffekte zu beobachten sind, gehört auch die Erwerbsminderungsrente.

Aufgrund der sozialpolitischen Bedeutung und der hohen Dynamik dieser Entwicklungen soll die indikatorgestützte Beschreibung und Typisierung des Altersübergangsgeschehens auf einer breiteren Datengrundlage aktualisiert und vertieft werden. Anders als die meisten bestehenden Berichtssysteme zu Erwerbsbeteiligung und Beschäftigungssituation Älterer zielt das Arbeitspaket auf Verlaufsanalysen mit Längsschnittdaten. Arbeitspaket 13 stützt sich vorwiegend auf die prozessproduzierten Daten der Deutschen Rentenversicherung, hierdie Vollendeten Versichertenleben (VVL). Dazu wird das FDZ-RV durch eine Erweiterung der von ihm angebotenen Standarddatensätze für dieses Arbeitspaket zusätzliche Analysemöglichkeiten schaffen: Ganze Erwerbsverläufe der renteneintrittskohorten 2004, 2007, 2010 und 2014 werden so konstruiert. Als weitere Datenquelle wird eine standartisierte Befragung von Bezieherinnen und Beziehern von Erwerbsminderungsrenten sekundäranalytisch ausgewertet.

Deskriptive Analysen der Erwerbsverläufe bis zum Altersübergangs umfassen längsschnittliche Kennzahlen (z.B. Zahl an Episoden, durchschnittlicher Dauer von Zuständen) und eine Typologie von Erwerbsverläufen und Altersübergängen auf Basis von Sequenzmuster- und Clusteranalysen. Diese unterschiedlichen Muster und die erzielte Rentenhöhe werden dann nach einschlägigen Faktoren sozialer Ungleichheit (z.B. Geschlecht, Bildungsniveau, Migrationsstatus, regionale Disparitäten) differenziert analysiert.

  • Poster 16: Wie das Rentensystem Erwerbsbiografien würdigt. [PDF]
  • Web-Tabellen Kapitel 16 [PDF]
  • Söhn, Janina/ Mika, Tatjana: The German statutory pension for reduced earning capacity: varying employment pathways and their association with education and medical diagnoses. Postersession im Rahmen der WiFOR Fachtagung Education, Health and Labor Market Outcomes am 09.10.2015 in Darmstadt. [PDF]
  • Mika, Tatjana/ Söhn, Janina: Frühverrentung durch Erwerbsminderung: Erwerbsbiographische Vorgeschichte. Vortrag am 14.09.2015 in Erkner. [PDF]
  • Söhn, Janina: Erwerbminderungsrenten: Erwerbsverlaufstypen, Rentenhöhe und Haushaltseinkommen. Vortrag am 26.06.2015 auf der 12. Jahrestagung des FDZ-RV in Berlin. [PDF]
  • Söhn, Janina/ Mika, Tatjana (2015): Krankheit und soziale Ungleichheit im Lebenslauf: das Risiko einer Erwerbsminderung und seine erwerbsbiographische Vorgeschichten. Vortrag auf der gemeinsamen Tagung „Lebenslauf, soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheit“ der Sektionen ‚Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse‘ (DGS)‚ Medizin- und Gesundheitssoziologie‘ (DGS) und der AG‚ Medizinsoziologische Theorien‘ (DGMS) am 28./29.05.2015. Universität Rostock [PDF]